Was für eine irritierende Geschichte! So kennen wir Jesus doch gar nicht! So wollen wir ihn nicht kennen...

Da ist eine Frau, die Hilfe braucht. Sie braucht die Hilfe nicht für sich selbst, sondern für ihre Tochter. Sie erfährt, dass Jesus nahe ist und sie läuft zu ihm. Sie kann nicht anders in ihrer tiefen inneren Not und Verzweiflung. Jesus ist ihre einzige Hoffnung. Er ist die einzige Hoffnung für ihr von Dämonen gequältes Kind.

Sie weiß gut, dass sie nicht zu Gottes auserwähltem Volk gehört. Sie weiß, dass sie eine Heidin ist, eine Verstoßene. Eine, die eigentlich nicht dazugehört.

Doch Hoffnung treibt sie zu Jesus. Sie hat von ihm gehört. Gehört, dass er viele geheilt hat, die allerlei Krankheiten hatten. Sie hatte gehört, dass er die Tausenden Hungernden satt gemacht hat. Sie hatte gehört, wie er schon einmal einen Besessenen, der sogar taub und stumm war, befreit hat. Sie hatte gehört von den Blinden, die sehend wurden, dem tot gemeinten Mädchen, das er an der Hand genommen und aufgeweckt hatte, als ob sie schlafen würde. Sie hatte gehört, wie eine Frau, die 12 Jahre an Blutfluss litt, nur durch die Berührung von Jesu Gewand geheilt wurde.

Sie hatte so viel gehört und jetzt, jetzt war dieser Jesus tatsächlich in ihrer Gegend. Eine Gegend, die Juden eigentlich nicht betreten würden. Er war da, ganz nah. Sie konnte ihn sehen. Sie konnte nicht anders. Sie ließ ihre Tochter zurück in ihrem schlimmen, gequälten Zustand. Sie rennt und ruft laut:

"Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen." (Matthäus 15, 22)

Es sind die Worte einer tief verzweifelten Frau. Ein innerer Schrei. Ein Gebet. Ein Flehen um Erbarmen. Eine Bitte: Schau mich an und sieh mein Elend. Beuge dich zu uns. Erlöse uns von der Gefangenschaft des Teufels.

Ihr Schrei muss laut und hartnäckig gewesen sein. So wie die zwei blinden Bettler, die ebenso riefen, mit den exakt gleichen Worten:

"Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!" (Matthäus 20,31)

Das ist ein Herzensschrei. Wenn die Worte fehlen, um zu beschreiben, was los ist. Wenn die Worte fehlen, zu erklären. Wenn nur noch Worte da sind, die rufen: Schau mich an! Erbarme dich! Sei gnädig! Du weißt doch, was ich brauche.

Diese Frau läuft nun Jesus hinterher und ruft ihn. Doch kaum gibt es härtere Worte im Neuen Testament wie diese:

"Er aber antwortete nicht ein Wort." (Mt 15, 23)

Wie aus der Geschichte zu verstehen ist, geht Jesus einfach weiter. Er beachtet die Frau nicht. Er hört die verzweifelten Rufe dieser Frau und sagt ... nichts. Er beachtet nicht ihren Ruf. Er antwortet ihr nicht. Er ignoriert sie. Er kehrt ihr den Rücken zu. Sie muss immer weiter rufen. Immer verzweifelter.

Jesus sagt kein Wort. Er antwortet nicht. Er geht weiter.

Kennst du das?

Dein verzweifeltes Rufen verhallt im Wind.

Dein sehnsüchtiges Wünschen findet keine Erfüllung.

Dein erwartungsvolles Gebet verklingt unerhört.

Dein Wunsch nach Heilung. Dein Wunsch nach einem Kind. Dein Wunsch nach einem Ehemann. Dein Wunsch nach Frieden in deiner Familie.

Dein Rufen nach einem Gott, der doch da ist, an den du glaubst, den du schon erlebt hast, von dem du viel gehört hast, der doch so viel im Leben anderer getan hat - hier und jetzt in deinem Leben wird das verzweifeltes Rufen deines Herzens in die Dunkelheit geworfen wie Funken eines Feuers, aber sie vergehen, scheinbar ungesehen und ungehört.

Jesus sagt kein Wort. Er dreht den Rücken zu und geht einfach weiter.

Warum Jesus? Warum drehst du dich nicht sofort um, schaust die Frau an und hilfst ihr? Du Gott voller Erbarmen, warum erbarmst du dich nicht? Warum tust du nichts?

Die Jünger sind genervt von dem Schreien der Frau. Wie damals die Leute, die die Blinden schreien hören. Die Jünger möchten diese hartnäckige Frau loshaben.

"Entlass sie! Denn sie schreit hinter uns her." (Mt 15, 23b)

Was sagen sie damit? Vielleicht: Tu doch, was sie will. Nicht, weil wir Erbarmen mit dieser Heidin haben, sondern weil sie uns nervt. Weil es komisch aussieht, dass sie so hinter uns herläuft und nicht locker lässt.

Was tut Jesus? Er bleibt stehen und erklärt seinen Jüngern, dass er für die verlorenen Schafe des Hauses Israels gekommen sei. Diese kurze Unterbrechung nimmt die Frau wahr, um sich nun mit allem, was sie ist und hat, vor Jesu Füße zu werfen und ihr Herzensschrei ist:

Herr, hilf mir! (Mt. 15, 25)

Herr, hilf mir. Schau mich an. Sieh mein Elend an. Hab Erbarmen.

Kennst du diese Rufe, laut oder leise?

Und jetzt, jetzt spricht Jesus zu der Frau. Er nennt sie als Heidin zu den Hunden gehörig, ein üblicher Ausdruck der Juden für Heiden. Darf Jesus geben, was eigentlich anderen gehört?

"Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber sprach: Ja, Herr, doch essen ja auch die Hunde von den Krumen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen." (Mt. 15, 26-27)

Die Frau kennt ihre Stellung. Aber sie scheint auch Jesus Christus, den Sohn Davids, zu kennen. Sie weiß, da ist genug. Genug für alle. Die kleinen Krümel sind genug. Und Jesus ist erstaunt:

"Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an." (Mt. 15, 28)

Dein Glaube ist groß. Was für eine wundervolle Aussage!

Dein Glaube ist groß und genügt. Deine Verzweiflung hat dich getrieben und dein Glaube hat dich getragen und gehalten bis zu den Füßen Jesu. Endlich an dem Ort, an dem er sie sieht und hört.

Diese Geschichte ist nicht leicht zu verstehen. Warum handelt Jesus so? Warum weist er die Frau zuerst zurück? Warum hört und sieht er sie nicht?

Ich muss an die Geschichte von der Frau am Brunnen denken. Auch sie ist eine Heidin, eine unreine Frau, nicht vom Volk der Juden. Und doch hat Jesus ein ganz persönliches Treffen mit ihr. Eine göttliche Verabredung. Jesus sieht und spricht sie an.

Hier ist es so anders: Jesus schweigt. Jesus geht weg.

Und doch, kannst du es glauben: Auch diese Begegnung ist eine göttliche Verabredung gewesen. Auch von dieser Frau wusste Jesus ganz genau. Und wegen dieser Frau und ihrer Tochter ist er durch diese Region gegangen.

Er hat einen wunderschönen Glauben aus dieser Frau herausgeholt durch sein Verhalten. Einen Glauben, der nicht aufgibt, auch wenn alles erst einmal dagegen scheint. Einen Glauben, der ruft und hinterherläuft und nicht locker lässt. Einen Glauben, der weiß: Nur hier finde ich Hilfe. Nur hier finde ich Erbarmen. Zu seinen Füßen muss ich sein. Sie weiß: Er wird sich meiner erbarmen.

Wenn Jesus kein Wort sagt … Wenn er sprachlos scheint in deinem Leben … Wenn es scheint, als ginge er einfach an dir vorüber, ohne dich zu beachten …

Dann sei dir gewiss: deinetwegen ist er da. Er sieht dich. Er hat alles in seinem souveränen Plan. Er kennt dein Herz und sieht deinen Schmerz. Er weiß genau, wo deine "kranke Tochter" sitzt. Er sieht dein Problem aus der Ferne. Dein Gebet "Herr, erbarme dich!" bleibt nie unerhört. Es formt in dir einen Glauben, der über allen Verstand hinaus geht. Einen Glauben, zu dem Jesus sagt: Er ist wunderschön. Er ist groß.