Wir leben nun schon seit über einem Jahr in unserem Haus. In unserer unmittbaren Nähe wohnen viele andere Menschen. Direkt gegenüber von unserem Haus steht ein Wohnkomplex mit 36 Wohneinheiten. Die dort wohnen sind ja alle irgendwie unsere Nachbarn. Und außer vielleicht vier Personen, wusste ich bis vor kurzem überhaupt nicht, wer in diesem Wohnklotz, welchen ich immer auf meinem Platz auf dem Sofa anschaue, wohnt.
Das wollte ich kurz vor Weihnachten endlich ändern. Mit den Kindern zusammen hatte ich schönes Papier auf Streichholzschachteln geklebt und eine Kerze mit einem Band daran befestigt. Dann fand ich im Internet einen schönen Weihnachtssegen und faltete oder rollte ihn so, dass ich ihn noch zwischen Kerze und Schachtel stecken konnte. Alle 36 Stück packte ich in meinen Einkaufskorb und als endlich der geeignete Zeitpunkt kam (naja, um ehrlich zu sein war es eigentlich gar kein so geeigneter - denn der geeignete Zeitpunkt kommt nie!) - machten wir uns auf den Weg. Meine Mädels waren grad im Prinzessinen-Fieber und ich nahm sie in ihren glänzenden Kleidern einfach so mit - Eigentlich nur vielleicht 20 Schritte entfernt betraten wir nun neues Territorium. Das bekannte Haus von außen, endlich waren wir mal drin.
Doch jetzt: wo anfangen? Wir zogen zuerst nach rechts. Etwas verschüchtert standen die Kinder in sicherem Abstand hinter mir, so, als ob gleich ein bissiger Hund hinter der Tür lauern würde und jeden Moment auf sie springen könnte. Naja, manchmal braucht es fast genau so viel Mut, an einer fremden Tür zu klingeln, wie einem bissigen Hund gegenüber zu stehen - so scheint es jedenfalls. Ich klingelte nun einfach. Es brauchte ein wenig, bis geöffnet wurde. Das erlebten wir auch an vielen anderen Türen und aus Erfahrung blieben wir dann immer geduldig ziemlich lange stehen. Denn meistens öffnete wirklich jemand nach einiger Zeit. Manche machten vorsichtig die Tür nur einen kleinen Spalt auf. Andere kamen mit Krücken oder Rollstuhl. Viele alte Menschen. Viele, die ganz allein leben. Viele, die kaum noch vor die Tür kommen. Mit jeder Tür, die sich uns öffnete, öffnete sich die Tür zu einer ganz eigenen Welt. Zu einem ganz eigenen Schicksal.
Die meisten Menschen schauten uns verwundert an. Sie sahen die Kinder und freuten sich. Ich stellte uns als die Nachbar-Familie von gegenüber vor. Sicher hatten sie den Kinderlärm schon gehört - unsere Kids sind auch fast die einzigen in der Straße, oder jedenfalls die einzigen, die noch auf der Straße spielen. Manche fragten, von welchem Verein wir kämen. "Von unserem Familien-Verein" sagte ich dann. Oder eine andere, ziemlich verschlafen, steuerte sofort wieder in ihre Wohnung auf der Suche nach irgendetwas, was sie uns geben könnte. Diesmal, so erklärte ich ihr, kommen Kinder nicht, weil sie etwas wollen, sondern weil sie etwas geben möchten. Das hat sie auch noch nie erlebt, meinte sie dann. Schade eigentlich, dachte ich. Eine andere Frau kam in ihrem Rollstuhl. Sie erzählte mir direkt an der Tür ihre traurige Lebensgeschichte. Dann kamen wir an Hildes Tür. Sie haben wir schon während der Umbauphase kennen- und lieben gelernt. Eine herzliche Frau, die immer mehr ihr Augenlicht verliert. Immer schlimmer wird es. Dennoch hat sie sich eine Fröhlichkeit und Zuversicht bewahrt, was ich sehr erstaunlich finde. Zu ihr gingen wir hinein, und setzten uns kurz in ihrer sehr kleinen Wohnung. Von ihrem Balkon aus hat sie einen Panorama Blick auf unser Haus. Wir sprachen kurz und ich las ihr den Segen auf dem kleinen Zettel vor. Sichtlich gerührt war sie, suchte den Kindern noch eine Schokolade und dann verabschiedeten wir uns.
Die oberen zwei Etagen besuchten wir direkt am morgen von Heiligabend. Ganz oben öffnete uns eine Frau, die seit noch nicht zu langer Zeit zugezogen ist. Sie bekam es gar nicht auf die Reihe, dass wir einfach Privatpersonen waren, die ihr was kleines schenken wollten. Sie bat uns herein und da ich eine Freundin dabei hatte, die die Kinder unter Kontrolle hielt, konnte ich mich mit der Frau etwas mehr unterhalten. Sie erzählte mir viel aus ihrem Leben und wir kamen auch auf den Glauben zu sprechen. Ich konnte ihr sagen, was er für mich bedeutet. Am Ende, beim verabschieden, sagte sie, dass sie jetzt wieder an Weihnachten glauben könne.
Ich muss sagen, dass diese Begegnungen in unserem Nachbarhaus mit das Schönste am zurückliegenden Weihnachtsfest waren. Zu sehen, wie Gott Menschen berührt, Herzen öffnet und viel Lächeln auf Gesichter zaubert und durch eine ganz kleine, einfache Geste Freude schafft in den Herzen der Menschen, die wir besuchten aber vor allem auch in unseren eigenen Herzen.
Unsere engsten Nachbarn haben wir Anfang des Jahres zu einem Kaffeetrinken zu uns eingeladen. Es kamen 12 Menschen, die nah an uns wohnen, uns genau beobachten und die alle eine Generation weiter sind als wir. Ich hatte keinen allzu großen Aufwand betrieben, extra Einfachheit walten lassen, um zu zeigen: es braucht nicht viel, um Gemeinschaft herzustellen. Es braucht nicht viel, einfach ein offenes Haus, ein Platz zum sitzen und eine Tasse Kaffee. - Es war ein wirklich schöner Nachmittag. Und sichtlich fröhlich gingen alle nach ca. zwei Stunden ihres Weges.
Einige Tage nach Weihnachten kam eine ältere Frau von gegenüber und brachte mir auf ihrem Rollator eine Blume vorbei. Sie hätte sich so gefreut über unseren Besuch. Zu Neujahr brachte uns eine andere einen selbst gebackenen Hefezopf. Sie fand so toll, was wir gemacht haben.
Ich will dich ermutigen. Ich will dich ermutigen, den ersten Schritt auf deinen Nachbarn zuzugehen. Ich will dich ermutigen, ebenfalls diesen Segen zu erleben. Gott hat dich an den Ort hingestellt, wo du gerade bist. Ob auf dem Land oder in der Stadt, in einem Haus oder in einer Wohnung. Um dich herum leben Menschen, die deine Nächsten sind. Und Jesu Auftrag für uns ist klar:
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." (Matthäus 22,39)
Kennst du deine Nachbarn? Hast du dich schon mal aufgemacht, die Menschen zu besuchen, die direkt neben dir leben, weinen und lachen, Freuden und Tragödien erleben? Hast du sie schon mal in dein Haus gelassen?
Ich weiß, dass wir alle sehr bschäftigt sind. Ich weiß, dass die Tage oft nur so dahin fliegen. Ich weiß, dass es manchmal schon schwer ist, genug Zeit für seine eigene Familie zu finden. Und dennoch: diese kleinen Taten der Freundlichkeit, der Herzlichkeit und der Menschlichkeit (denn sich von Mensch zu Mensch zu begegnen, ist zutiefst menschlich und ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen, ob er es glaubt oder nicht...) - sie sind es, die unsere Tage beflügeln, unsere Kinder prägen und unsere Herzen glücklich machen können. Und dafür sollte doch Zeit sein, oder?
Stell dir vor, eines nachmittags steht deine Nachbarin vor der Tür mit einem frischen Tulpenstrauß und einer ermutigenden Karte - einfach so, für dich!
Und jetzt denk an das, was die Welt revolutionieren könnte - wenn gelebt- die Worte unseres Herrn Jesu Christus:
"Was du möchtest, das andere dir tun, das tue ihnen!" (Matthäus 7,12)
Worüber freust du dich? Was wünschst du dir von anderen? Vielleicht ist es der Strauß Blumen vom Aldi für zwei Euro, mit dem du die Welt (oder den Tag) eines deiner Nachbarn verändern kannst?
Ich glaube, dass unser liebes Deutschland wieder viel mehr Menschlichkeit und überraschende Freundlichkeit braucht. Menschen, die gebend leben, weil sie wissen, dass im Geben der meiste Segen liegt, nicht im Nehmen. Menschen, die von Gott so beschenkt sind, dass sie gar nicht anders können, als weiterzugeben, die sozusagen überlaufen.
Ich denke dabei auch an das, was Ann Voskamp in dem Buch "The Broken Way" (auf deutsch erschienen unter dem Titel "Durch meine Risse scheint dein Licht") geschrieben hat:
"Es gibt nichts Besseres, nichts Schöneres als zu geben, weil es ein Ausdruck von Liebe ist - und kreuzgemäß ist. Liebe gibt. "Schenkt, dann wird Gott euch schenken; ja, er wird euch so überreich beschenken, dass ihr gar nicht alles fassen könnt. Darum gebraucht anderen gegenüber ein reichliches Maß; denn Gott wird bei euch dasselbe Maß verwenden." (Lukas 6,38)
Liebe muss einfach an die Menschen, die wir treffen, weitergegeben werden. Menschen, die uns in der Seitenstraße begegnen, die in unserer Nachbarschaft wohnen oder in belebten Straßen an uns vorüberschlendern. Nicht jeder gibt es zu, aber im Grunde sehnt sich doch jeder Mensch vor allem danach, geliebt zu werden. Die Liebe beschenkt den anderen und das Lächeln bestätigt ihm: Ja, du wirst geliebt. Liebe gibt. Wir können einen großen Aufwand betreiben, um einen anderen Menschen glücklich zu machen. Doch nichts bewirkt so viel wie eine einfache Geste, die dem anderen sagt, dass er geliebt wird.
Es ist schon seltsam: So viele Menschen würden gern die ganze Welt verändern, aber nur vergleichsweise wenige kommen auf die Idee, einem anderen Menschen durch eine kleine Freundlichkeit ihre Liebe zu zeigen.
Wem kannst du heute in der Liebe Gottes begegnen?
Wem kannst du heute durch eine kleine Geste zeigen: Du bist gesehen und geliebt?
Vielleicht einem deiner Nachbarn?