Es ist der Abend vor Heiligabend. Ich sitze in unserem gemütlichen Wohnzimmer und höre schöne Musik. Überall leuchten kleine Lichter. Und ich schaue auf unseren schönen Weihnachtsbaum, der mir seine Geschichte erzählt:
Als ein kleiner Same begann sein Leben inmitten vieler anderer. Auf einer Wiese wurde er gepflanzt, mit der hohen Berufung, eines Tages ein Weihnachtsbaum zu werden. Tapfer und mutig streckte er seine ersten unscheinbaren Spitzen aus der Erde. Er war erwacht und wollte es auf jeden Fall zu etwas bringen. Der schönste wollte er werden. Und Kinderherzen höher schlagen lassen. Er wuchs und wuchs. Jahr um Jahr. Wurde größer und größer. Jedes Jahr, als der Wind kalt um ihn blies und vereinzelte Schneeflocken auf seinen Zweigen Platz nahmen, kamen die Menschen und bahnten sich ihren Weg durch die Bäume. Jedes Mal, wenn jemand näher an ihn herankam, richtete er sich vor Aufregung in seine schönste Form auf. Freude floss bis in die entferntesten Nadeln an der Spitze. Doch Jahr um Jahr gingen die Menschen an ihm vorüber. Jahr um Jahr schwand die Hoffnung, spätestens kurz vor dem großen Fest der Menschen. Wieder nicht geschafft. Und dann hatte er irgendwann die Größe erreicht, die ihm alle Hoffnung nahm. Mit der Zeit wurde er trübselig und seine Äste hingen herab und manche verlor er sogar. Hat er sich umsonst bemüht in all den Jahren? Hat er seine Berufung vollkommen verfehlt? Wird er irgendwann einfach gefällt werden und Futter für den Ofen werden, ohne je mit Kerzen geschmückt gewesen zu sein?
Doch eines Tages kam ein älterer, grauhaariger Mann. Er machte sich nichts aus seinem Trübsinn und seinem hängenden, unvollständigen und zu hohen Wuchs. Auch machte es ihm scheinbar nichts aus, dass er schon etwas krumm geworden war, da jegliche Anstrengung mit dem Schwinden der Hoffnung abgeebbt war. Dieser Mann kam und suchte genau diesen Baum. Er fällte ihn und nahm ihn mit.
Als er zum Haus gebracht wurde und die Familie diesen Baum sah, da war keine Freude zu sehen, sondern ein Entsetzen. Die Tochter fing gar zu weinen an, weil man so einen hässlichen Baum doch nicht als Weihnachtsbaum nehmen könne. Viel zu groß und krumm und kahl. Doch irgendwie schaffte er es in den Ständer und da stand er. Nach wenigen Minuten des Schreckens gewann die Familie ihn lieb. »Er ist unperfekt, so wie wir. Also passt er doch perfekt zu uns.« - Dieser Baum wird ein wunderschöner, unperfekter, aber geliebter Weihnachtsbaum. Und das wurde er wirklich. Große, selbstgebastelte Sterne schmücken ihn und die kahlen Stellen geben ihnen Raum und Schönheit.
So sitze ich hier und schaue unseren Baum an. Freue mich an dem Unperfekten und dem Schönen daran. Und ich komme nicht drumherum, darin eine Botschaft zu lesen, die in diesen Tagen laut zu mir gesprochen hat:
Alle versuchen, dass Weihnachten »perfekt« wird. Es soll schönes Essen geben, alles geputzt sein, die erwünschten Geschenke eingepackt sein, Gesundheit herrschen, Familien harmonieren. Eine lange Wartezeit macht dieses Fest nur noch angespannter bei vielen, weil die Erwartungen so hoch sind. Doch ist perfekt so wichtig? Ist das Essen so wichtig? Die Geschenke? Dass alles harmonisch abgeht? Dass alle gesund sind? Dass unsere Herzen auch noch schnell aufgeräumt werden?
Je mehr ich um mich schaue, je mehr Menschen ich in dieser Zeit begegne, desto mehr spüre ich, dass Weihnachten gerade dahin kommt, wo es eben nicht perfekt ist. Wo der Mann an Long Covid leidet und nicht weiß, wie es weiter gehen soll mit seinen ständigen Kopfschmerzen. Wo die Familie unter einer seltenen Krankheit des einen Kindes leidet, die ein normales Leben kaum mehr möglich macht. Wo die Augen immer mehr von ihrer Kraft verlieren und eine Nachbarin mit 60 immer weiter erblindet. Wo einsame Alte im Altenheim sitzen, unseren Liedern lauschen und teilweise völlig anteilnahmslos vor sich hinstarren. Wo Asylanten verzweifelt auf ihre Aufenthaltsgenehmigung warten und wieder ein Jahr ohne Antwort vergangen ist. Wo eine 5-köpfige Familie in einem viel zu kleinen Zimmer wohnt und nicht weiß, wie es weitergeht. Wo Unfriede herrscht und Zerwürfnis. Wo Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit wie gierige Hände um sich greift, wie in den Zeltstädten von Calais, wo junge Menschen nichts mehr wollen, als das Meer zu überqueren.
Ich sitze hier an diesem Abend vor Heiligabend. Morgen wird hier Kinderlachen sein (hoffentlich) und besinnliche Andacht und leckeres Essen. Wieder einmal mehr werden wir Weihnachten feiern. Einen Moment. Einen Augenblick.
Wird sich die Freude Bahn brechen durch alle Erwartungen hindurch?
Werden wir auch bei unzufriedenen Kindern und verbranntem Essen und entfachtem Missverständnis, bei krummen und lückenhaften Bäumen - ach bei allem, was leider immer noch so unperfekt ist - werden wir innerlich sagen können: ja, genau hier musste es Weihnachten werden.
Genau hierfür ist unser Retter Jesus Christus gekommen. In unsere Dunkelheit, in unsere unperfekte, kaputte Welt und in meine eigene... Genau da kam Er hinein. Licht und Hoffnung für welche Situation auch immer gerade herrscht. Wo die Dunkelheit groß ist, scheint das Licht umso heller.
Freue dich nicht so sehr an dem gelungenen Fest, dass alles reibungslos geklappt hat (was natürlich ein Grund von Freude sein darf). Freue dich vielmehr, dass auch wenn alles schiefgeht und die Not der Welt und deiner eigenen dir zu schaffen macht - genau dann SEIN Licht dir scheint. Genau dann hat Weihnachten die größte Kraft, Veränderung zu schaffen und dein Herz in Anbetung zu versetzen über diesen großen Gott, der arm wurde, damit wir in Ihm reich werden können, der Menschengestalt annahm, um uns so ganz nah zu kommen, der sich in seiner Barmherzigkeit zu uns in unsere Zerbrochenheit gebeugt und uns besucht hat.
Das aufgehende Licht aus der Höhe. Kannst du es sehen?